Fallstudie: Das Accessibility Competence Center der Siemens AG

Letzte Änderung: 04/2019

Wie geht das Accessibility Competence Center (ACC) der Siemens AG bei der Durchführung von Praxis-Tests zur Barrierefreiheit von Software, Internet-Seiten und mobilen Applikationen vor und wie arbeiten Experten mit und ohne Behinderung dabei zusammen? Was können wir für das Projekt Team Usability hiervon lernen? Um diesen Fragen nachzugehen, trafen wir uns im Februar 2019 mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ACC in Paderborn.

Die Prüfexperten des ACC

Das Team des ACC besteht aus Prüfexperten mit und ohne Behinderungen: Neben einem blinden Tester, der standardmäßig mit dem Screenreader JAWS (bei Bedarf auch mit NVDA, VoiceOver und Talkback) unter Verwendung von Brailledisplay und Sprache testet, gibt es einen Tester mit starker Seheinschränkung, der mit ZoomText und VoiceOver (bei Bedarf auch mit JAWS und Talkback) unter Verwendung von Großschrift und Sprache arbeitet. Ein weiterer blinder Experte arbeitet vorrangig mit Braillezeile (mit diversen Lösungen auch unter Linux) und ist damit weniger auf einen bestimmten Screenreader spezialisiert. Darüber hinaus gibt es drei Tester, die die Prüfungen durchführen, ohne auf ein Hilfsmittel angewiesen zu sein. Neben der Methode der Inspektion werden auch diverse Testwerkzeuge eingesetzt. Bei allen Mitarbeitern handelt es sich um Diplom-Informatiker mit langjähriger Erfahrung im Bereich barrierefreier Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT).

 

5 Personen an Laptops, im Vordergrund eines mit Braillezeile
Klaus-Peter Wegge und sein ACC-Team aus Expertinnen und Experten mit und ohne Einschränkungen.

Rolle und Aufgaben des ACC

Grundsätzlich sieht die Inklusionsvereinbarung der Siemens AG vom Januar 2018 vor, dass nach Möglichkeit für alle allgemeinen IT-Services, die firmenintern neu eingeführt werden, Konformität auf Level AA der internationalen Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) erreicht werden soll. Das ACC hat somit die Aufgabe, digitale Anwendungen als interner Dienstleister auf Barrierefreiheit zu prüfen, freizugeben und ggf. bei Entwicklung und Verbesserungen zu unterstützen. Durch die Zuordnung des Teams zum Siemens-Bereich "Usability und User Experience" ergeben sich Synergien insbesondere bei Projekten, bei denen beide Aspekte "aus einer Hand" angeboten werden können.

Die langjährige Erfahrung des ACC zeigt, dass Projekte meist nicht von vorne herein barrierefrei sind. In der Regel finden die Testexperten Barrieren, fassen sie in einem Prüfreport zusammen und reichen diesen an die Entwickler zurück. Häufig sind sie direkt in die "Sprints" und das Qualitätsmanagementsystem eingebunden. Wenn die Entwickler Fehler behoben haben, wird inkrementell nachgetestet. Auch Anwendungen und Services, die Siemens einkauft, werden getestet. Obwohl Barrierefreiheit nun auch ein Kriterium im Beschaffungsprozess allgemeiner ITK-Dienste ist, zeigen sich auch hier immer wieder Defizite, die z.B. aus den firmenspezifischen Anpassungen resultieren.

Siemens-intern wird das ACC zunehmend schon zu einem frühen Zeitpunkt in den Entwicklungsprozess eingebunden. Das hat den Vorteil, dass eine Fehlerbehebung effizienter möglich ist, firmen- bzw. domänenspezifisches Wissen vorhanden ist, vorhandene Use-Cases genutzt werden können und somit die meist knappen Zeitpläne nicht wesentlich gestört werden.

Der Testprozess des ACC

In den meisten Fällen werden die Hauptfunktionen eines IT-Projekts in einem sogenannten „Kurzcheck“ überprüft. Ein Kurzcheck bezieht wesentliche Barrierefreiheits-Anforderungen ein, hat aber nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Der Aufwand für einen Kurztest beträgt etwa einen Arbeitstag. Die zu testenden Use-Cases werden entweder von den Entwicklern vorgegeben oder selbst erarbeitet. Kurzchecks werden in der Regel von einem dreiköpfigen Team durchgeführt, nämlich von

  • einem blinden Screenreader-Experten,

  • einem seheingeschränkten Experten, der mit Vergrößerungssoftware arbeitet, und

  • einer sehenden Usability-Expertin, die visuell wesentliche WCAG-Kriterien wie Tastaturbedienbarkeit, Fokus sichtbar, gute Kontraste usw. testet. Insbesondere wird geprüft, ob die Informationen aller Beteiligten nachvollzogen und genutzt werden können (Vollständigkeitstest). Darüber hinaus werden auch Hinweise zu Best-Practices bzw. Usability-Problemen gegeben.

Die Einzeltests werden in einem Prüfbericht zusammengefasst (teilweise mit erläuternden Screenshots) und von dem sehenden Teammitglied qualitätsgesichert. Im Prüfbericht wird angegeben in welcher Testumgebung geprüft wurde. Der Bericht ist in der Regel nach Behinderungsarten strukturiert. Software für bestimmte Berufsgruppen wird nur gemäß der notwenigen Mitarbeiterqualifikatin bewertet. So bleibt z.B. das Thema "Leichte Sprache" in der Regel außen vor. Auch dass ein Screenreader-Nutzer ein CAD-System bedient, ist nicht zu erwarten.

Bei Siemens sind bestimmte Standards vorgegeben:

  • Betriebssystem: Microsoft Windows 10

  • Browser: Chrome on Windows (aktuellste Version)

  • Screenreader: JAWS (aktuellste Version, keine speziellen Skripte), ggf. NVDA, VoiceOver, Talkback

  • Vergrößerungssoftware: ZoomText

Was wir für Team Usability gelernt haben

Für unsere Aufgabe „Praxistest“ ergeben sich aus dem Besuch wichtige Einsichten:

  • Die Arbeitsweise des ACC zeigt die wichtige Rolle einer Managerin des Gesamttestprozesses, die Rückfragen stellt und ggf. auch Inkonsistenzen bei den Ergebnissen, die beim Zusammenführen der verschiedenen Einzeltests mit Hilfsmittel auftauchen, klären kann.

  • Der Bezug auf Standards wie den WCAG ist für das ACC bei Weitem nicht so zentral wie im Kontext des BITV- bzw. WCAG-Tests, die die Anforderungen der BITV bzw. der WCAG komplett abprüfen. Dies zeigt schon der häufige Einsatz von Kurztests, die wesentliche Probleme schnell erfassen und zeitnah zurückmelden.

  • In den Tests mit Hilfsmitteln werden auch Usability-Probleme evident, die unabhängig von der Frage der technischen Barrierefreiheit zu einer wichtigen Rückmeldung an den internen oder externen Kunden führen. Diese Rückmeldungen zeigen oft Möglichkeiten, den von der Anwendung unterstützten Arbeitsprozess für Menschen mit Behinderungen deutlich effizienter zu gestalten, was oft auch für nicht-behinderte Menschen Verbesserungen bewirkt. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergund einer alternden Belegschaft und verlängerter Lebensarbeitszeitenrelevant.

Die Verzahnung von Barrierefreiheit und Usability wird auch eine wichtige Aufgabe des Projekts Team Usability sein – zum einen, um aus den Praxistests Hinweise auf neue standardisierbare Anforderungen abzuleiten, die stärker auch die Usability der Accessibility-Aspekte für behinderte Menschen abdecken, und zum anderen, um systematisch zu erfassen, welche Usability-Best-Practices für Menschen mit Behinderungen zentral sind.