Konformitätstest unter Spracherkennung

Letzte Änderung: 05/2022

Ist meine Website barrierefrei? Habe ich alle Barrierefreiheitsanforderungen des geltenden Standards umgesetzt? Gibt es noch Optimierungsbedarf? Mit solchen Fragen treten Kunden an die Prüfstellen des deutschlandweiten BIK BITV-Test-Prüfverbunds heran. Hier arbeiten Test-Expert*innen, die mithilfe des BIK BITV-Tests überprüfen, ob alle Barrierefreiheitsanforderungen erfüllt sind. Die Prüfer*innen identifizieren noch bestehende Barrieren und dokumentieren diese im Prüfbericht. Da der BITV-Test bestmöglich auf dem Weg zur Barrierefreiheit unterstützen möchte, werden außerdem Verbesserungsvorschläge und Best-Practice Beispiele beschrieben.

Einer der Test-Experten ist Thomas Ernst.

Er ist Diplom-Informatiker und IAAP Web Accessibility Specialist (WAS) und arbeitet seit vielen Jahren im „Test.Labor Barrierefreiheit“ der Pfennigparade in München, einer anerkannten Werkstatt für Menschen mit Körperbehinderungen. Aufgrund einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung ist Thomas‘ Bewegungsfähigkeit hochgradig eingeschränkt. Er steuert digitale Geräte daher über Sprache und seine motorischen Möglichkeiten von Kopf und Hals.

Thomas testet mit assistiven Technologien.

An seinem Desktop-Computer (Windows) nutzt der 52-Jährige

Braunhaariger Mann mit Brille, in einem Elektrorollstuhl vor einem PC sitzend, vor sich ein Podest mit einem grauen Kästchen mit Löchern.
Die Bedienung der Minitastatur mit dem Mundstab ist zügig, aber anstrengend. Daher nutzt Thomas häufig seine Spracherkennungssoftware.

Unsere Forschungsaufgabe: Thomas‘ Testmethodik zu dokumentieren.

Im April 2022 habe ich Thomas in München besucht, um ihn ein paar Tage beim Testen zu beobachten und seine Testmethodik festzuhalten und auszuwerten: Wie testet er unter Sprachsteuerung? Was kann er behinderungsbedingt nicht selbst testen und braucht Assistenz? Wo hat seine Testmethodik Vorteile? Wie steht es um die Validität der Ergebnisse?

Zum Hintergrund: Hierzulande gibt es nur vereinzelt Test-Expert*innen mit Behinderungen, die mit einer assistiven Technologie, z. B. einem Screenreader, einer Bildschirmlupe oder Vergrößerungssoftware oder eben mit Spracherkennungssoftware die vollumfängliche Konformität von Websites oder Apps testen. Daher ist es für uns besonders spannend, mehr über Thomas‘ Arbeitsweise zu erfahren – sein Beispiel und die weiterer Test-Expert*innen wollen wir dokumentieren und zeigen, dass und wie es möglich ist und bestenfalls zum Nachahmen motivieren.

Seine Tools fürs Testen.

Thomas nutzt die Tools, die in der BIK Werkzeugliste aufgeführt sind. Auf seinem Windows-PC sind verschiedene Browser (mit aktivierten Dragon-Web-Erweiterungen) und einige Browser-Add-ons installiert, z. B. Firefox und Chrome mit der Web Developer Toolbar. Daneben verwendet er auch die in der Werkzeugliste aufgeführten Bookmarklets (Lesezeichen) und Desktop-Applikationen, die beim Testen unterstützen, etwa den Colour Contrast Analyser und den Open-Source Screenreader NVDA. Beim Einsatz von NVDA als Test-Tool ist es für ihn nicht möglich, alle Tastenkombinationen einzusetzen, da sich auf seiner Minitastatur die sogenannte „NVDA-Taste“ (Einfügen-Taste) nicht in Kombination mit anderen Tastenbefehlen nutzen lässt.

Sein Vorgehen beim Testen.

Thomas nutzt das BIK BITV-Test-Prüfverfahren und die veröffentlichten Prüfschritte. Das BIK Test-Tool, in dem alle BIK Prüf-Expert*innen (derzeit rund 35 Zertifizierte mit und ohne Behinderungen) ihre Tests dokumentieren, ist barrierefrei nutzbar.

Im Test-Tool legt er seinen Prüfauftrag und seine Seitenauswahl an. Um seinen Test im Test-Tool anzulegen und seine Testergebnisse zu dokumentieren, nutzt er die Diktierfunktion seiner Spracherkennungssoftware (Sprachbefehl „Diktierfenster anzeigen“).

Für seine Prüfpraxis hat es sich als effizient erwiesen, dass er das Test-Tool, alle zu prüfenden Seiten und die jeweilige Prüfschrittbeschreibung in mehreren Browser-Tabs offen hat und über die Sprachbefehle „Taste Steuerung 1“, „Taste Steuerung 2“ usw. anspringt.

Codeanalyse

Thomas prüft die Umsetzung vieler Barrierefreiheitskriterien über eine Analyse der Syntax im Inspektor. Er öffnet den Inspektor, indem er auf ein Element rechtsklickt (Sprachbefehl „Maus Rechtsklick“) und aus dem öffnenden Kontextmenü den Eintrag „Untersuchen“ (Sprachbefehl „Klick Untersuchen“) auswählt. Er berichtet, dass der Sprachbefehl „Klick Untersuchen“ abhängig von der Firefox-Version manchmal nicht funktioniert. Dann hilft es, ein Update zu machen.

Video-Beschreibung "Inspektor öffnen"

Mitschnitt von Thomas' Bildschirmansicht: Er fokussiert mithilfe des Mausrasters einen Schalter (Hamburger Button in der responsiven Ansicht) und öffnet über "Rechtsklick" und "Untersuchen" den Inspektor. Dieser öffnet sich unten, ein blau unterlegter Bereich zeigt den HTML-Code des fokussierten Schalters.

Über Codeanalyse untersucht er beispielsweise, ob Grafiken oder Bedienelemente entsprechende Alternativtexte haben, prüft die Auszeichnung von HTML-Strukturelementen (z. B. für Tabellen, Listen, Zitate usw.), analysiert die Umsetzung von Formular- und Eingabefelder, sieht nach, ob die Hauptsprache angegeben ist, und gleicht die Umsetzung verschiedener dynamischer Komponenten wie Karussells, Register-Elemente oder Ausklapp-Bereiche mit Best Practice Beispielen, etwa den WAI-ARIA Authoring Practices ab.

Zusätzlich arbeitet Thomas mit verschiedenen Add-ons und/oder Bookmarklets. Zum Beispiel  untersucht er die Struktur von Überschriften neben der Codeanalyse auch mit der Browsererweiterung (Firefox) HeadingsMap oder dem Bookmarklet „Inhalte gegliedert“. Oder er prüft mit dem Firefox-Add-on Landmark Navigation via Keyboard or Pop-up, ob „Bereiche überspringbar“ oder mit dem Bookmarklet "Kurzbefehle", ob „Tastatur-Kurzbefehle abschaltbar oder anpassbar“ sind.

Im Vorteil: Zugängliche Namen prüfen

Als erfahrener Spracheingabe-Nutzer kann Thomas den Prüfschritt 9.2.5.3 „Sichtbare Beschriftung Teil des zugänglichen Namens“ direkt mit seiner Spracherkennungssoftware testen. Dieser Prüfschritt setzt eine Barrierefreiheitsanforderung um, die direkt auf die Nutzbarkeit beschrifteter Bedienelemente (z. B. Links, Schalter, Eingabefelder usw.) für Spracheingabenutzer abzielt: Sind sichtbare Beschriftungen im zugänglichen Namen eines Bedienelements hinterlegt, kann Thomas diese aktivieren, indem er die sichtbare Beschriftung (z. B. Suchen) zu seinem Sprachbefehl hinzufügt (also z. B. „Klick Suchen"). Aus seiner Prüfpraxis weiß Thomas, dass dies bei Links in der Regel besser funktioniert als bei Schaltern und Eingabefeldern.

Alternative: Mausraster

Beim Testen von Seiten, bei denen bereits an Barrierefreiheit gedacht wurde, ist das Mausraster seltener erforderlich. Doch im Alltag nutzt Thomas es recht häufig. Es hilft ihm, nicht-zugängliche Bedienelemente zu aktivieren. Das Mausraster sieht aus wie ein Gitter, das sich über den Bildschirm oder Teile des Bildschirms legt. Mit Hilfe dieses Gitters kann er sich einem beliebigen Element annähern, es fokussieren und dann mit „Maus Linksklick“ aktivieren.

Video-Beschreibung "Mausraster"

Mitschnitt von Thomas' Bildschirmansicht: Er aktiviert mithilfe des Mausrasters einen Link im Hauptmenü (Menüpunkt "Aktuelles"). Durch die Aktivierung öffnen sich unterhalb mehrere Menüpunkte. Diese schließen sich jedoch automatisch, als Thomas versucht, einen der augeklappten Menüpunkte mit dem Mausraster zu fokussieren.

Kontrastmessung

Die Messung des Kontrastverhältnisses von Vorder- und Hintergrundfarbe ist wichtiger Bestandteil verschiedener BITV-Test-Prüfschritte. Diese testet Thomas im Zweifelsfall (wenn es grenzwertige Farbkombinationen gibt) mit dem Tool Colour Contrast Analyser. Wie das aussieht, zeigt der nachfolgende Filmausschnitt. Da das Setzen der Pipette des Tools recht aufwändig ist, nutzt er vorbereitend ein automatisiertes Tool, das die Kontrastmessung unterstützt.

Kontrastverhältnisse innerhalb einer Fly-out- oder Drop-down-Navigation testet Thomas mithilfe von Bildschirm-Kopien (Sprachbefehl "Taste Drucktaste"). Hier kann nämlich das Problem auftreten, dass sich die eingeblendeten Bereiche in dem Moment automatisch schließen, in dem Thomas einen Sprachbefehl absetzt.

Video-Beschreibung "Kontrastmessung"

Mitschnitt von Thomas' Bildschirmansicht: Er öffnet seinen Colour Contrast Analyser. Mithilfe des Mausrasters untersucht er das Kontrastverhältnis des Linktextes in der Menüführung (weißer Text auf dunkeltürkisem Hintergrund). Das Tool gibt ein Kontrastverhältnis von 5,2:1 aus.

Responsive Ansicht testen

Hierfür hat Thomas eine Voreinstellung vorgenommen: Mit der Web Developer Toolbar (Firefox) hat er sich die Größe des verkleinerten Browserfensters auf 1280 CSS-Pixel eingestellt. Sobald er den Sprachbefehl „Klick Wiederherstellen“ diktiert, ändert sich die Fensterbreite seiner offenen Webseiten entsprechend der Voreinstellungen und er kann Anforderungen prüfen, die eine mobile Ansicht erfordern.

Den Prüfschritt „Inhalte brechen um“ (Sind alle Informationen und Funktionen verfügbar, ohne horizontal scrollen zu müssen?) prüft Thomas mit den Developer Tools seines Chrome Browsers. Hier hat er sich eine Viewport-Breite von 334 CSS-Pixel voreingestellt.

Screenshot einer responsiven Ansicht im Inspektor

Tastaturbedienbarkeit

Prüfschritte rund um die Tastaturbedienung, z. B. „Ohne Maus nutzbar“ oder „Schlüssige Reihenfolge bei Tastaturbedienung“, testet Thomas über den Sprachbefehl „Tabulator“. Bei jedem Sprachbefehl hüpft der Fokus auf das nächste interaktive Element. Schneller geht es mithilfe seiner Minitastatur. Das löst Thomas je nach Tagesform.

Herausforderung Mausbedienung

Ein Mehr an Zeit kosten Thomas Prüfschritte, die eine Mausbedienung erfordern, etwa „Eingeblendete Inhalte bedienbar“. Hier wird sowohl unter Maus-, als auch unter Tastaturbedienung getestet. Thomas Hilfsmittel bieten beide eine Maussimulation an, sowohl die Spracherkennungssoftware (Mausraster) als auch seine Minitastatur (Maussimulation). Er startet in der Regel mit der Mausbedienung und testet danach unter Tastaturbedienung.

Thomas berichtet, dass es bei diesen Prüfschritten tendenziell eher möglich sein kann, behinderungsbedingt etwas zu übersehen. Vor allem, wenn unter Zeitdruck getestet werden muss. Seine Qualitätssicherung ist hierfür sensibilisiert und hat in den stichprobenhaften Nachtests ein besonderes Augenmerk auf Funktionalitäten unter Mausbedienung.

Behinderungsbedingt mit Assistenz: Tests am Mobiltelefon

Im BIK BITV-Test gibt es Prüfschritte, die teilweise oder komplett am mobilen Endgerät getestet werden, nämlich:

  • Prüfschritt 9.2.5.1: Alternativen für komplexe Zeiger-Gesten
  • Prüfschritt 9.2.5.2: Zeigergesten-Eingaben können abgebrochen oder widerrufen werden
  • Prüfschritt 9.2.5.4: Alternativen für Bewegungsaktivierung

Da für Thomas die Durchführung dieser Prüfschritte am Mobiltelefon nicht möglich ist, übernimmt das ein Kollege oder eine Kollegin. Thomas begleitet die Durchführung mit seiner Fachkenntnis.

Fazit

Die Durchführung von Konformitätstests, etwa BIK BITV-Tests oder BIK WCAG-Tests mit Spracherkennungssoftware ist möglich. Die allermeisten Prüfschritte lassen sich selbständig testen, für drei Prüfschritte ist Assistenz erforderlich. Die Zusammenarbeit mit seinen Test-Kolleg*innen und der BIK Qualitätssicherung sorgt für ein hohes Maß an Validität und Qualität und unterstützt Thomas – besonders dann, wenn er unter Zeitdruck testet.

  • Hilfreich ist Thomas‘ hohe IT-Kompetenz, so kann er häufig direkt den Code analysieren.
  • Insgesamt ist die Prüfpraxis unter Sprachsteuerung zeitintensiver, das betrifft bereits die Erstellung der Seitenauswahl für das Angebot und später auch das Testen. Ein etwas längerer Prüfzeitraum sollte daher gezielt mit den Kunden abgesprochen werden.
  • Im Vorteil sind erfahrene Spracheingabe-Nutzer*innen bei der Prüfung, ob sich mit der sichtbaren Beschriftung Bedienelemente aktivieren lassen: Das kann direkt mit der Spracherkennungssoftware getestet werden.
  • Unter Zeitdruck kann es vorteilhaft sein, Prüfschritte, die eine Mausbedienung erfordern, von „echten Mausnutzer*innen“ (nach-)testen zu lassen bzw. die Qualitätssicherung hier um besonderes Augenmerk zu bitten.
  • Bei Prüfschritten, die an mobilen Endgeräten ausgeführt werden, ist Thomas auf Assistenz angewiesen.
  • Die Validität der Tests ist sehr gut. Die Kurzanalyse der Rückmeldungen der Qualitätssicherungen zeigt keine „behinderungsbedingte Fehlerhäufung“.
  • Die Spracherkennungssoftware Dragon NaturallySpeaking hat noch Defizite, deren Lösung das Testen erleichtern würde. Zu nennen wären hier vor allem:
    • Die Verbesserung der Funktion „Drag & Drop“ (Ziehen und Ablegen). Mit dieser Funktion können Elemente angeklickt und bei gedrückter Maustaste verschoben werden, z. B. wenn eine Benutzeroberfläche breiter oder schmaler gezogen werden soll.
    • Die Nutzbarkeit des Mausrasters über einem geöffneten Fly-out-Menü, ohne dass sich der eingeblendete Bereich ungewollt schließt.
Selfie von Thomas Ernst und Simone Lerche
Danke, Thomas, für die spannende Zusammenarbeit!