Neue Arbeitsgruppe sehbehinderter Prüferinnen und Prüfer teilt Wissen zu Teststrategien

Letzte Änderung: 09/2022

Welche Testmethoden, Arbeitserfahrungen und Praxistipps haben Test-Expertinnen und -Experten mit Sehbehinderungen, die mit ihrer assistiven Technologie Konformitätstests oder aufgabenbasierte Expertentests zur Barrierefreiheit von Webseiten und (mobilen) Anwendungen durchführen?

Im April 2022 haben wir im Projekt „Team Usability“ eine Arbeitsgruppe (AG) sehbehinderter Prüferinnen und Prüfer ins Leben gerufen. Sie hat das Ziel, die Strategien und Erfahrungen verschiedener Expertinnen und Experten zu analysieren, zu dokumentieren und in unseren Veröffentlichungen zu verarbeiten. Außerdem soll eine Möglichkeit zur längerfristigen Vernetzung und zum Wissenstransfer geschaffen werden.

Die AG trifft sich etwa alle 6 bis 8 Wochen in einer Online-Konferenz, um sich über bestimmte Themen auszutauschen. Aktuell nehmen 13 blinde oder seheingeschränkte Accessibility-Expertinnen und -Experten aus Verwaltung, Bildung, Forschung und Wirtschaft an unserem fachlichen Austausch teil: Neben Judith Faltl (Berufsförderungswerk Würzburg gGmbH - Bildungszentrum für blinde und sehbehinderte Menschen), Detlef Girke (BITV-Consult), Jan Hellbusch (Hellbusch Accessibility Consulting), Emanuel Helms (Projekt Team Usability), Christopher Kopel (Koordinierende Stelle Barrierefreiheit des Informationstechnikzentrum Bund), Mohammed Malekzadeh (Deutsche Bahn - DB Systel GmbH), André Schlegl (Deutsche Blindenstudienanstalt e.V.) und Susanne Siems (Deutsches Zentrum für barrierefreies Lesen), sind auch Mitarbeitende der Generalzolldirektion und des Accessibility Competence Center der Siemens AG dabei.

Hier ein paar Einblicke in den Austausch:

Wie sieht der Arbeitsalltag aus?

Die Aufgaben der Teilnehmenden sind wie erwartet recht unterschiedlich:

  • Die Accessibility-Professionals beraten entweder organisationsintern oder extern, vor allem Kunden aus dem öffentlich-rechtlichen Bereich. Einige arbeiten als selbständige Accessibility-Berater.
  • Sie unterstützen die Umsetzung von Barrierefreiheit durch Workshops, technische Beratung, Informationen zu gesetzlichen Anforderungen und die Durchführung von Prüfungen (von Use-Case-bezogenen Tests bis hin zu strukturierten, umfassenden Konformitätstests).
  • Untersucht werden Websites, mobile Anwendungen (Apps), PDF-Dokumente, Desktop-Anwendungen, interne Fachverfahren, SaaS (Software as a Service) und hybride Anwendungen.

Wie verlief die „Ausbildung“?

Ein Gutteil der Teilnehmenden hat ein IT-Studium, eine Fachinformatiker-Ausbildung oder eine Ausbildung im Bereich der Informations- oder Medientechnik abgeschlossen. Einige haben sich ihr Developer-Know-how selbst beigebracht, vor allem indem sie digitale Angebote entwickelten. Einige Organisationen fördern die gezielte Weiterentwicklung von technischem Know-how, etwa zu verschiedenen Programmierumgebungen.

Ihre Accessibility-Kompetenzen haben alle AG-Mitglieder hauptsächlich in Eigeninitiative entwickelt. Geholfen hat dabei unter anderem das Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten, Artikeln oder Fachbüchern.

Welche Teststrategien gibt es?

Auch hier gibt es unterschiedliche Ansätze:

Verschiedene blinde Prüf-Expertinnen und -experten berichten, dass sie im Team mit ihrer Assistenz testen. Im ersten Schritt gehen sie gemeinsam das Webangebot oder die App durch, um eine Orientierung zu bekommen. Bei Bedarf erläutert die Assistenz die visuelle Nutzung oder kann, bei webbasierten Angeboten, den blinden Prüfenden bei seiner Untersuchung des DOM (Document Object Model) unterstützen. Die Bewertungskompetenz (einschließlich Hinweisen zur Optimierung) liegt beim blinden Prüfenden. Die Assistenz übernimmt unabhängig die Teile der Prüfung, die der blinde Experte bzw. die blinde Expertin behinderungsbedingt nicht selbständig durchführen kann, etwa Prüfschritte zu Kontrasten und Farben, zur Tastaturbedienbarkeit oder Fokushervorhebung. Es wird betont, dass die Assistenz durch die Zusammenarbeit eine gewisse Accessibility- und Entwickler-Kompetenz aufbaut.

Einige Prüf-Experten und -Expertinnen berichten, dass sie vornehmlich für die interne Qualitätssicherung der Barrierefreiheit zuständig sind, und häufig Use-Case-bezogene Prüfungen mit ihrer assistiven Technologie, z. B. von interne Fachverfahren, durchführen. Dabei klären und verschriftlichen sie im ersten Schritt gemeinsam mit dem Product-Owner oder den Entwicklerteams die Use-Cases, die durchlaufen werden sollen. Diese führen sie dann selbständig durch und dokumentieren Schwierigkeiten, ggf. auch in Form von Screencasts oder Videoaufnahmen über eine externe Kamera (Stativ neben Rechner). Tipps zu Screencasts (iOS) unter Remote-App-Tests mit Screenreader-Nutzenden.

Beim Accessibility Competence Center (ACC) der Siemens AG werden die Evaluierungen in der Regel in gemischten Teams von behinderten und nicht-behinderten Mitarbeitenden durchgeführt. Dabei kommen, je nach konkreter Aufgabenstellung, neben Screenreader- und Screenmagnifier-Nutzenden auch Usability-Professionals oder Softwareentwickler zum Einsatz. Wegen der meist hohen Komplexität der Tools wird auch hier in der Regel Use-Case-bezogen evaluiert (die Use Cases werden meist aus den Usability-Tests übernommen). Bei der Prüfung steht nicht die vollständige Konformität im Vordergrund, sondern die effiziente und effektive barrierefreie Bedienbarkeit, also die "Usability der Accessibility". Die Ergebnisse der Einzeltests werden in einem Prüfbericht zusammengefasst (teilweise mit erläuternden Screenshots oder Screencasts), Inkonsistenzen werden gemeinsam überprüft und geklärt. Um die Kosten der Barrierefreiheit zu senken, evaluieren die Expertinnen und Experten des ACC entwicklungsbegleitend und inkrementell und unterstützen bei der Fehlerbehebung. Weiterführende Informationen im Artikel Das Accessibility Competence Center der Siemens AG.

Ein weiteres Arbeitsfeld sind Prüfungen von PDF-Dokumenten: Hierbei untersuchen die seheingeschränkten oder blinden Test-Expert*innen ein PDF unter anderem mit ihrer assistiven Technologie und dokumentieren Schwierigkeiten.

Welche Prüfanforderungen werden behinderungsbedingt leicht „übersehen“ und welche Lösungen gibt es dafür?

Beim Prüfen der Barrierefreiheit gibt es Aspekte, die für Prüfende mit Seheinschränkungen behinderungsbedingt schwer wahrzunehmen sind. Folgende Beispiele wurden gesammelt:

Screenreader-Nutzende:

  • Elemente mit fehlender Semantik oder fehlenden Alternativtexten
  • Schriftgrafiken, Layoutgrafiken ohne Alt-Text
  • Elemente, die keinen Tastaturfokus erhalten, und übersprungen werden
  • Elemente, die zwar fokussiert, aber kein zugänglicher Name ausgegeben wird
  • Inhalte, die für Sehende versteckt sind, aber (oft störend) an Screenreader-Nutzende ausgegeben werden
  • Textinhalte, die in unzugänglichen Layern (Apps) oder über aria-hidden versteckt (Web) sind

Visuell arbeitende seheingeschränkte Nutzende:

  • Elemente, die so schwache Kontraste haben, dass sie nicht erkannt werden
  • Elemente, die so weit auseinander liegen, dass ihr Zusammenhang nicht verständlich wird
  • Dynamische Elemente / Dialoge, die außerhalb des vergrößerten Ausschnitts auftauchen

Es werden folgende Lösungen genannt:

  • Hierfür eignen sich die genannten Prüfmethoden im Team mit sehender Assistenz oder Kolleginnen bzw. Kollegen.
  • Angebote, deren Barrierefreiheit äußerst schlecht ist, sind herausfordernd zu prüfen. Eine solche Ausgangssituation macht eine effiziente Prüfung unmöglich. Solche Aufträge werden deshalb nach einem ersten Check abgelehnt oder an sehende Kolleginnen bzw. Kollegen weitergereicht.

Mitmachen erwünscht!

In der kommenden Sitzung Ende Oktober soll es beispielsweise um die Nutzung automatisierter Testtools gehen. Weitere Themen sind willkommen und das Mitmachen erwünscht. Bitte melden Sie sich bei Interesse per Mail bei Team-Usability-Mitarbeiterin Simone Lerche.