Online-Befragung und Fokusgruppe mit Proband*innen mit Behinderungen

Letzte Änderung: 09/2022

Was macht eine nutzerfreundliche „Erklärung zur Barrierefreiheit“ aus? Antworten geben eine Online-Befragung und eine Fokusgruppe, die wir mit unseren Proband*innen mit Behinderungen durchgeführt haben.

Hintergrund

Mit Ediz Kiratli, Usability-Professional und Mitglied im Berufsverband German UPA e. V. sowie im Team-Usability-Beirat, verbindet uns eine langjährige Kooperation. Herr Kiratli ist durch seine Arbeit im Arbeitskreis Barrierefreiheit Experte für die vielfältigen Fragestellungen der digitalen Barrierefreiheit (Website und Software).

Im Frühjahr 2022 beschlossen wir, mit aufeinander aufbauenden Methoden der Nutzerforschung zu untersuchen, wie eine anwenderfreundliche Erklärung zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen aussehen kann. Wir von „Team Usability“ wollten durch die reale Erprobung der beiden UX-Formate (UX steht für User Experience / Nutzererfahrung), die wir bisher noch nicht durchgeführt hatten, Praxiserfahrungen zur Auswertung für das Projekt gewinnen.

Nutzerforschung zur „Erklärung zur Barrierefreiheit“

Nutzerforschung hat das Ziel, Feedback von Nutzenden einzuholen, um mehr über ihre Nutzungsweisen, Einstellungen und Bedürfnisse zu erfahren. Hierfür haben sich quantitative (z. B. Online-Umfrage) und qualitative (z. B. Interviews, Fokusgruppe) Methoden etabliert.

In unserem Multi-Methoden-Ansatz zur Untersuchung der „Erklärung zur Barrierefreiheit“ wurden im ersten Schritt bestehende Fragestellungen und Hypothesen in einer Online-Befragung bewertet. Im zweiten Schritt haben wir im Rahmen einer Online-Fokusgruppe (Diskussionsgruppe) gezielt Ergebnisse der Online-Umfrage vorgestellt, diskutiert und darauf aufbauend Verbesserungsvorschläge erarbeitet.

Für uns als Forschungsprojekt stand dabei besonders eine Frage im Zentrum: Welche methodischen und technischen Aspekte sollte man bedenken, wenn man behinderte Proband*innen in die beiden UX-Formate einbinden möchte.

Online-Umfrage mit Menschen mit Behinderungen

Generell sind Online-Umfragen beliebt: Es können leicht viele Daten erhoben und statistisch ausgewertet werden. Online-Umfragen werden gewöhnlich mithilfe von Online-Tools implementiert: Hier werden Fragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten sowie offene Fragen eingestellt, die die Nutzenden dann über einen Link direkt im Umfrage-Tool beantworten. Das Tool unterstützt auch die statistische Auswertung.

Unser Vorgehen:

  • Zeitraum: April - Mai 2022
  • Umfrage-Tool: Zur Verfügung stand das Umfrage-System EVASYS des Herstellers Evasys GmbH, das über eine Konformitätserklärung zur Barrierefreiheit verfügt, die Konformität mit WCAG 2.1 AA ausweist.
  • Gestaltung der Umfrage: Die Fragen wurden von Ediz Kiratli entwickelt und gemeinsam mit dem Projekt „Team Usability“ verfeinert. Es gab 11 Einfach-Auswahlfragen und 5 offene Fragen (z. T. unter Filter-Bedingungen). Neben inhaltlichen Fragen zur Erklärung zur Barrierefreiheit (Nutzung, Verständlichkeit von Formulierungen, präferierte Kontaktwege) gab es auch Fragen zur Sozio-Demographie (Geschlecht, Alter, Beruf) und zur Art der Behinderung.
  • Pre-Test: Um die Zugänglichkeit der Online-Umfrage sicherzustellen, bevor sie an die Proband*innen verschickt wurde, testete Team-Usability-Mitarbeiter und Screenreader-Nutzer Emanuel Helms den Prozess mit seinen Hilfsmitteln (Desktop/NVDA & mobil/VoiceOver) und stellte keine Barrieren fest. Die Online-Umfrage bekam das „Go“ zum Versand.
  • Probandengruppe: Aus dem Proband*innen-Pool des Projekts wurden 23 Personen mit unterschiedlichen Behinderungen (blind 35%, mobilitätseingeschränkt 35%, seheingeschränkt 26%, psychisch beeinträchtigt 4%) per Mail zur Teilnahme an der Befragung aufgefordert. 19 der angefragten Personen haben die Umfrage innerhalb von 14 Tagen ausgefüllt. Das ist eine sehr gute Ausschöpfungsquote von 83 % (19 von 23 Proband*innen). Für die Teilnahme an der Online-Befragung gab es keine Aufwandsentschädigung.

Parallel haben wir die Umfrage auch in verschiedenen, speziell auf die Themen „Barrierefreiheit und Behinderungen“ ausgerichtete Online-Gruppen gepostet. Obwohl den Gruppen insgesamt über 6.000 Personen folgten, haben nur insgesamt 3 Personen an der Umfrage teilgenommen.

Unser Rat:

  • Gut die Hälfte unserer Teilnehmenden nutzte das Online-Tool mit einem Hilfsmittel, etwa mit Screenreader, Vergrößerungssoftware oder Spracherkennung. Eine barrierefreie Online-Umfrage ist die Voraussetzung, dass diese Zielgruppe teilnehmen kann.
    In unserem Fall meldete keiner der Teilnehmenden Probleme bezüglich der Zugänglichkeit der Online-Umfrage. Die Praxis bestätigt also die Konformitätserklärung des
    EVASYS-Tools. Barrierefreiheit ist jedoch keine Selbstverständlichkeit: Prüfen Sie vorab, ob das Tool, das Sie einsetzen wollen, weitestgehend zugänglich ist, z. B. über eine Rückfrage beim Hersteller. Wenn möglich, lassen Sie vorab einen Hilfemittelnutzer einen Testdurchlauf machen.
  • Wesentlich für Nutzertests und -forschung sind natürlich motivierte Proband*innen mit Behinderungen. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass sich diese Zielgruppe nicht ganz einfach rekrutieren lässt und in den Datenbanken der klassischen Rekrutierungsagenturen nicht zu finden ist. Da auch der Weg über Online-Foren kaum Rücklauf generiert, pflegen wir im Projekt einen Probanden-Pool. Nachmachen erwünscht!

Fokusgruppe mit Menschen mit Behinderungen

Als Fokusgruppe wird eine moderierte, strukturierte Gruppendiskussion von sechs bis acht Teilnehmenden bezeichnet. Ziel von Fokusgruppe ist es, durch einen ausführlichen Austausch tiefergehende Bedürfnisstrukturen offenzulegen oder Einzelaussagen durch die Gruppenmeinung zu validieren.

Unser Vorgehen:

  • Zeitraum: Juli-August 2022
  • Probandengruppe: Die Proband*innen, die an der Online-Umfrage teilgenommen hatten, bekamen eine zweite Online-Umfrage zugeschickt: Hiermit erfragten wir ihre Bereitschaft, an einer Fokusgruppe mitzumachen, bestehende Erfahrungen mit qualitativen Formaten sowie weitere Parameter zur Planung (z. B. Teilnahme online oder vor Ort, präferierte Video-Konferenzsysteme, behinderungsbedingt benötigte Unterstützung, zeitliche Möglichkeiten).
    Es haben sich sieben Teilnehmende für die Fokusgruppe gemeldet (blind 29%, motorisch eingeschränkt 43%, seheingeschränkt 14%, psychisch beeinträchtigt 14%).
  • Planung der Fokusgruppe: Der Gesprächsleitfaden wurden von Herrn Kiratli entwickelt und mit dem Projekt „Team Usability“ abgestimmt. Die Gruppendiskussion war für 90 Minuten geplant und sollte im präferierten Online-Konferenzsystem der Teilnehmenden, in Zoom, durchgeführt werden. Die Einladung der Teilnehmenden per Mail, die Zusendung der Datenschutz- und Einverständniserklärungen und die Rückmeldungen dazu organisierte Team-Usability-Mitarbeiterin Simone Lerche.
  • Durchführung der Fokusgruppe: Alle Teilnehmenden waren pünktlich im Online-Konferenzsystem eingeloggt. Die Moderation übernahm Ediz Kiratli, Protokoll führte seine Kollegin Leah Knaack. Herr Kiratli stellte einzelne Ergebnisse der Umfrage vor und validierte sie mit den Anwesenden, etwa zu präferierten Kontaktwegen. Gemeinsam mit den Teilnehmenden wurden außerdem Verbesserungsvorschläge zu Problemen erarbeitet, die in der Online-Umfrage gefunden wurden, etwa zur Verständlichkeit von Formulierungen oder zu präferierten Darstellungsformen.

Unser Rat:

  • Die Teilnahme an einem Gruppenformat liegt nicht jedem, deshalb haben wir neben der Fokusgruppe auch Termine für Einzel-Interviews angeboten. Zwei Personen haben diese gewählt. Insgesamt hat nur gut die Hälfte der Befragten, einer Teilnahme an einem der qualitativen Formate zugestimmt. Für die Teilnahme an zeitaufwändigeren Formaten (wie etwa die Fokusgruppe oder einem Interview) empfehlen wir eine Aufwandsentschädigung.
  • Wie die Umfrage-Tools, können auch Online-Konferenzsysteme mehr oder weniger barrierefrei nutzbar sein. Es ist daher wichtig, im Vorfeld in Erfahrung zu bringen, welche Systeme von Menschen mit Behinderungen häufig genutzt bzw. präferiert werden. Betrachten Sie es nicht als selbstverständlich, dass das Online-Konferenzsystem, das Ihnen zur Verfügung steht, problemlos einsetzbar ist. Klären Sie auch hier die Zugänglichkeit über eine Rückfrage beim Hersteller.
  • Nutzen Sie die Einstellungsmöglichkeiten Ihres Online-Konferenzsysteme entsprechend der UX-Methode: In einer Fokusgruppe ist es z. B. vorteilhaft, die Bildschirmfreigabe durch die Teilnehmenden zu deaktivieren, während sie bei einem Usability-Test aktiviert sein sollte.
  • Es ist hilfreich, einige Tastaturkürzel Ihres Online-Konferenzsystems zu kennen, denn für Screenreader-Nutzende ist es einfacher, hiermit zu arbeiten, als zur entsprechenden Schaltfläche zu navigieren (z. B. „Hand heben“ in Zoom unter Windows: Alt + Y). Noch eine Info: Von den teilnehmenden Screenreader-Nutzenden weiß ich, dass sie gerne die Chatfunktion deaktivieren, damit der Screenreader diesen nicht parallel zum Gespräch ausliest – die Chatfunktion sollte bei Ihrer Moderation daher keine wichtige Rolle spielen.
  • Das Einverständnis und die Zustimmung zur Aufnahme der Session sollte möglichst vorab eingeholt werden (und nicht erst während der Session). Schicken Sie die Dokumente hierfür in einem barrierefreien Format (z. B. Word oder barrierefreies PDF) und möglichst ein paar Tage vor dem Termin an die Teilnehmenden.
  • Achten Sie darauf, im Interview oder im Gruppengespräch Inhalte für alle wahrnehmbar zu vermitteln: Wenn etwa Beispiele auf Webseiten gezeigt werden, sind diese für seheingeschränkte und blinde Teilnehmende nicht oder nicht ausreichend wahrnehmbar. Daher ist es hier wichtig, Visuelles über Sprache zu erläutern (also Bilder zu beschreiben oder Texte vorzulesen).
  • Bemühen Sie sich um ein ausgewogenes Gleichgewicht der Redebeiträge, vor allem, wenn deutlich wird, dass Teilnehmende behinderungsbedingt Schwierigkeiten haben, schnell zu antworten.
  • Nehmen Sie bei Unsicherheiten die Hilfe von Accessibility-Expert*innen oder ggf. der Schwerbehindertenvertretung Ihres Unternehmens in Anspruch: Sie kennen den Bedarf der Zielgruppe und unterstützen eine barriere- und diskriminierungsfreie Planung und Durchführung Ihrer Methode.

Ausführliche Infos im Paper für die Mensch und Computer

Anfang September 2022 hat Ediz Kiratli unser UX-Projekt auf der Konferenz Mensch und Computer 2022 vorgestellt, die in diesem Jahr von der Technischen Universität Darmstadt ausgerichtet wurde. Unser dazu eingereichtes Paper Multi-Methoden-Ansatz mit Probanden mit Behinderungen (PDF) ist im Workshopband der Konferenz erschienen:

Kiratli, E., Lerche, S. & Knaack, L., (2022). Multi-Methoden-Ansatz mit Probanden mit Behinderung. In: Ludewig, E., Jackstädt, T. & Hinze, J. (Hrsg.), Mensch und Computer 2022 - Workshopband. Bonn: Gesellschaft für Informatik e.V.. DOI: 10.18420/muc2022-up-292.