Nutzungsweisen kennenlernen: Wie Menschen mit Behinderungen das Web nutzen

Letzte Änderung: 03/2023

Menschen mit Behinderungen und ihre digitalen Nutzungsweisen sind heterogen. Auch Personen, die die gleiche assistive Technologie einsetzen, erkunden Inhalte in unterschiedlicher Weise. Es ist daher nicht sinnvoll und auch kaum möglich, pauschale Annahmen für Nutzende eines bestimmten Hilfsmittels zu treffen. Trotzdem möchten wir UX-Fachleute, die bisher keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hatten, gängige digitale Nutzungsweisen vorstellen.

Wir verwenden den Begriff "assistive Technologie" für Hard- und Software, die Menschen mit Behinderungen zur Nutzung von digitalen Produkten einsetzen und die auf den persönlichen Geräten der Nutzenden installiert bzw. integriert sind. Beispiele solcher assistiven Technologien sind Screenreader, Vergrößerungs- sowie Spracherkennungssoftware.

Unter "Anpassungsstrategien" verstehen wir Techniken, die Menschen mit Behinderungen helfen, Inhalte nach ihren Präferenzen darzustellen. Dazu gehören Anpassungen, die über den Browser oder das Betriebssystem vorgenommen werden (Vergrößerung, individuelle Farbeinstellungen usw.).

Blinde Menschen

Blinde Menschen nutzen Screenreader (Bildschirmleseprogramme), um mit digitalen Produkten zu interagieren. Bei dieser Form der assistiven Technologie handelt es sich um eine Software, die Inhalte, die auf digitalen Endgeräten zur Verfügung gestellt werden, verarbeitet und alternativ über eine Sprachausgabe, teilweise zusätzlich über eine Braillezeile (in der Blindenschrift Braille) ausgibt. Screenreader bieten in der Regel die Möglichkeit, mit Tastenkombinationen zu navigieren, sowie verschiedene Modi, um mit Inhalten zu interagieren.

Die gängigsten Screenreader sind laut WebAim-Survey (englischsprachig, 2024) unter Windows JAWS und NVDA und auf mobilen Endgeräten (iOS) VoiceOver. Für Deutschland gibt es dazu keine Einzelerhebung – unsere Erfahrung bestätigt dieses Ergebnis jedoch.

Seheingeschränkte Menschen

Seheingeschränkte Menschen (auch bei minimalem Sehrest) erschließen sich Webangebote häufig vornehmlich visuell. Sie passen die Darstellung der Webinhalte nach ihren Bedürfnissen an, indem sie diese, etwa mithilfe einer Vergrößerungssoftware oder des Browsers, vergrößern oder indem sie bevorzugte Farbeinstellungen nutzen. Phasenweise kombinieren seheingeschränkte Menschen die visuelle Nutzung mit einer Sprachausgabe. Nutzungsweisen können auch, abhängig vom Endgerät, wechseln, z. B. arbeiten manche Personen mobil mit Screenreader und am Desktop mit Vergrößerung.

Aufgrund der starken Vergrößerung sehen seheingeschränkte Menschen möglicherweise nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Inhalte. Manche Personen nutzen dann statt der Computer-Maus die Tastatur, etwa wenn aufgrund des kleinen Ausschnitts die Orientierung schwerfällt oder der Mauszeiger schlecht wahrnehmbar ist.

Neben den Vergrößerungsmöglichkeiten des Browsers und integrierten Lupen bzw. Vergrößerungshilfen der Betriebssysteme ist laut WebAim LowVision-Survey (englischsprachig, 2018) vor allem die Vergrößerungssoftware ZoomText verbreitet.

Menschen mit eingeschränkter Motorik

In dieser Nutzergruppe findet man, abhängig von der Einschränkung, eine Bandbreite von Nutzungsweisen und Hilfsmitteln. Diese reichen von speziellen Tastaturen wie z. B. Einhandtastaturen über Switch-Steuerung bis hin zur Spracherkennungssoftware.

Spracherkennungssoftware wird typischerweise von Menschen mit hochgradigen motorischen Einschränkungen verwendet (siehe WebAim Motor Disabilities Survey, englischsprachig, 2013). Sie erkennt Sprache, um mit Inhalten zu interagieren (über gesprochene Befehle) und um Text einzugeben (Umwandlung von Sprache in Text).

Menschen mit motorischen Einschränkungen sind bei der Nutzung ihrer Hilfsmittel (auch bei Spracherkennung) auf die Tastaturunterstützung angewiesen und benötigen unter Umständen mehr Zeit für die Interaktion. Sie sind außerdem auf ein gutes Fokusmanagement und auf einen deutlich sichtbaren Fokusindikator angewiesen, um bei der Navigation nicht die Orientierung zu verlieren.

Marktführer im Bereich Spracherkennungssoftware ist Dragon NaturallySpeaking. Um das Hilfsmittel kennenzulernen, beachten Sie unseren Artikel Konformitätstest unter Spracherkennung.

Sprachsteuerung gibt es auch auf mobilen Endgeräten: iOS: Voice Control (englischsprachig) und Android: Voice Access (englischsprachig). Diese integrierten Bedienungshilfen werden immer besser. Wie verbreitet die Nutzung unter mobilitätseingeschränkten Menschen im deutschsprachigen Raum ist, sollte Thema weiterer Forschung sein.

Menschen mit Höreinschränkungen

Höreingeschränkte Menschen nutzen keine spezielle assistive Technologie. Trotzdem haben Sie Bedarfe, die berücksichtigt werden sollten. Hörschädigungen können in jedem Lebensalter eintreten und sich entsprechend unterschiedlich auf die bevorzugt genutzte Kommunikationsform auswirken.

  • Eine Hörschädigung vor Abschluss des Spracherwerbs bezeichnet man als Frühschwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit. Gehörlose Menschen nutzen häufig bevorzugt die Gebärdensprache, in Deutschland die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Sie wurde auf Bundesebene 2002 mit dem Behindertengleichstellungsgesetz als eigenständige Sprache anerkannt. Für gebärdensprachorientierte Menschen kann Schriftsprache (und damit auch Texte auf Websites oder in Apps) ähnlich wie eine Fremdsprache schwieriger zu verstehen sein. Aus diesem Grund sind für sie Gebärdensprachvideos (ein WCAG 2.1 AAA-Erfolgskriterium) hilfreich. Manchmal gibt es auf Websites oder in Apps auch Informationen in DGS.
  • Hörschädigungen nach Abschluss des Spracherwerbs bezeichnet man als Spätschwerhörigkeit oder Ertaubung. Schwerhörige Menschen nutzen in der Regel auch nach Eintreten der Hörschädigung bevorzugt schriftsprachliche Informationen. Hilfreich sind Alternativen für akustische Informationen, etwa Transkripte für Audiodateien und Untertitel für Videos (siehe Alternativen für Multimedia).

Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen

Kognition bezieht sich auf mentale Prozesse wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Verständnis. Sie wird durch interne (z. B. durch eine Hirnfunktionsstörung) und externe Faktoren (z. B. durch Stress) beeinträchtigt. Der Sammelbegriff "kognitive Beeinträchtigungen" schließt sehr unterschiedliche Einschränkungen, etwa Lernbehinderungen oder neuropsychiatrische Erkrankungen wie Demenzen, das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) oder Autismus-Störungen ein. Teilweise werden auch Lernstörungen wie die Lese-Rechtschreib-Störung (auch Legasthenie) einbezogen.

Doch wie nutzbar sind digitale Produkte für Menschen mit einem erhöhten Bedarf an kognitiver Zugänglichkeit?

Das Internet bietet Menschen mit kognitiven Behinderungen schon einige Möglichkeiten an, Informationen auf eine Weise zu verarbeiten, die für sie hilfreich ist. Manche Menschen verwenden zum Beispiel unterstützend Vorlese-Programme oder sie passen sich die Größe, die Abstände oder die Farben von Texten an, um das Lesen zu erleichtern.

Manchmal gibt es auf Websites oder in Apps Informationen in Leichter Sprache. Leichte Sprache versucht, schriftliche Informationen auf einem möglichst einfachen, niedrigschwelligen Niveau zu vermitteln.

Dennoch sind Websites und Apps häufig für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen noch nicht ausreichend nutzbar. Dies wird sich ändern müssen: Denn die digitale Transformation der Gesellschaft macht die Nutzung webbasierter Dienste und Informationen immer unumgänglicher.

Weitere Informationen und Empfehlungen zur Verbesserung der kognitiven Teilhabe im Web:

Welche Nutzergruppen haben wir einbezogen?

Veranlasst durch die Distanzregelungen in der Corona-Pandemie konnten wir im Projekt über weite Strecken mit unseren Probandinnen und Probanden nur online zusammenarbeiten.

Es hat sich gezeigt, dass die Online-Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen schwieriger ist. Ihre Usability-Bedarfe zu untersuchen ist jedoch wichtig. Wir verweisen dafür auf das Projekt #LeichtOnline – Digitale Barrierefreiheit für Menschen mit kognitiven Behinderungen der Lebenshilfe Landesverband Hamburg e.V.

Wir haben im Projekt „Team Usability“ schwerpunktmäßig mit sehbehinderten, blinden und mobilitätseingeschränkten Probandinnen und Probanden gearbeitet. Diese Personen verwenden assistive Technologien oder nutzen systemseitige Anpassungen. Vereinzelt haben wir auch neuropsychiatrisch beeinträchtigte Testpersonen eingebunden.